Das wunderbare Wort „aufheben“

Drei unterschiedliche Bedeutungen eines einzigen Begriffs
Für eine Predigt zum Jahresschluss kam mir in den Sinn, den Anlass mit einem einzigen Wort zu deuten. Mir war aufgefallen, dass sich dafür der Begriff „aufheben“ bestens eignet, weil er mehrere ganz unterschiedliche Bedeutungen hat, deren drei wichtigste haargenau zu einem Jahreswechsel passen. (Durch Googeln im Internet wurde mir klar, dass ich nicht der einzige bin, dem dieser Reichtum eines Wortes bewusst wurde. Umso mehr will ich davon erzählen.)
Aufheben im Sinn von nicht wegschmeißen, sondern behalten, sammeln, aufbewahren: Man kann das übertreiben, wenn man Erinnerungsstücke, Briefe, Fotos, Bücher, Zeitungsausschnitte, Mitbringsel usw. anhäuft. Doch Schönes und Wichtiges aufzuheben und zu bewahren, wie Museen es auf ihre Weise tun, dazu drängen uns Ehrgeiz und Verantwortung, aber natürlich auch Spaß und Lust. Vor allem ist es gut, kostbare Worte nicht zu vergessen, Erkenntnisse und Überzeugungen zu hüten, zu getroffenen Entscheidungen zu stehen, Freundschaften zu pflegen, seinem Leben einen roten Faden zu geben. Gutes aufheben, sodass es nicht verloren geht, ist, so glaube ich, nicht nur menschliche, sondern auch göttliche Art. Was ein Menschenleben ausmacht, geht bei Gott nicht verloren, vor allem das, was in Glaube, Hoffnung und Liebe gewirkt und erlitten wurde. Wir sind und bleiben Gottes Kinder. Und so tun wir recht, wenn wir uns selbst und unseren Werten und Tugenden treu bleiben; wenn wir trotz Coronakrise unseren Glauben an den in Christus Mensch gewordenen Gott nicht nur bewahren, sondern unseren Mitmenschen und unserer Gesellschaft laut bezeugen; wenn wir in einer Zeit von Verunsicherung und Verordnungen überzeugend von Gott sprechen. Und vielleicht empfiehlt es sich sogar, manches zu bewahren, wozu uns dieses Coronajahr 2020 genötigt hat.
Eine zweite Bedeutung des Worts aufheben meint beseitigen, außer Kraft setzen. So wie Vorschriften, Gesetze, Strafen aufgehoben werden können, so sollte auch manches alte Kapitel des Lebens aufgehoben, abgeschlossen, vorbei sein. Das geht nicht auf Knopfdruck; dazu braucht es oft viel Zeit, und Spuren unseres alten Lebens bleiben in uns eingeschrieben. Aber für Gott ist nichts unmöglich. Er hat die Macht, Dunkles hell zu machen und Verkorkstes aufzuheben, zu „vernichtigen“. Gott sei Dank können wir auch im Bußsakrament Unvollkommenes und Altes beiseite räumen. Manches von dem, was unser eigenes Leben oder etwa ein vergangenes Jahr gebracht hat, sollte man einfach ablegen, abschließen, vergessen. Schön wäre es, wenn in diesem Sinn bald die Corona-Pandemie und die Covid-19-Erkrankungen, die um Gläubige keinen Bogen machen, aufgehoben würden. Aber auch anderes hätte sich besser nicht ereignet, von empfundener oder auch realer Absenz von Kirche und Seelsorge in Coronazeiten bis hin zu Enttäuschungen, schlimmen Widerfahrnissen, Fehlhaltungen oder Schuld im persönlichen Leben. Aufheben also im Sinn von beseitigen.
Eine dritte Bedeutung des Worts aufheben steht für hinaufheben, beispielsweise vom Boden aufheben oder aber emporheben. Das ist nun wirklich ein zutiefst christliches Motiv. Es taucht in der Liturgie auf: „Erhebet die Herzen.“ Es taucht in Gleichnissen auf, die davon erzählen, dass Verlorenes gesucht und dann als wertvolles Fundstück hochgehoben wird. Selbst wenn das vergangene Jahr durch das Gebot der Kontaktvermeidung und durch vielerlei Einschränkungen auch im kirchlichen und gottesdienstlichen Leben kein leichtes war, so gibt es sicher bei jedem und jeder von uns Erfahrungen und Vollzüge, die sich nicht nur bewahren, sondern sogar emporheben lassen: Begegnungen, Hoffnungen, Anliegen, Sorgen, ein mutiges Wort, eine rechte Tat, Mühe um einen Menschen, empfangene Freundschaft, geschenkte Treue. Kleines kann groß werden, Gutes kann geadelt werden, Verwundetes kann geheilt werden, wenn es denn hinaufgehoben wird zum Herrn. Jesus selber bürgt dafür, dass es ein solches Emporheben gibt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Kleines wird groß. Und wo Gott im Spiel ist, da kann ja nicht nur irgendetwas, sondern da kann mein ganzes Leben emporgehoben werden. Jesus hat uns Wohnungen beim Vater bereitet. Wir hoffen, dass wir einst nicht irgendwohin hinabfallen, sondern erhöht werden, aufgenommen in Gottes bergenden Schutz, und bei ihm Vollendung finden. In diesem Sinn verbirgt sich im Wort aufheben sogar unsere Auferstehungshoffnung.
Mich erstaunt der sprachliche Reichtum eines einzigen Wortes, und ich ließ mich anregen, Gedanken einfach weiterzuspinnen. Inzwischen sind wir längst drin im neuen Jahr, doch auch im Blick auf das, was kommt, gelten die drei unterschiedlichen Bedeutungen des schönen Worts „aufheben“. Ihnen gemäß dürfen wir uns dreifach Gutes wünschen und selber beim vielfältigen Aufheben mitmachen – für ein gesegnetes Jahr 2021.
Hans Schieber